Seit 2017: Mit Schwung in die Zukunft – und dann kommt Corona
Doch das Jubiläum lässt sich nicht ausbremsen
Schon als Student hast du dich bei uns beworben. Ganz schön mutig. Wie bist du auf uns gekommen?
Nikolai Ott: Ich habe die Ausschreibung in den Württembergischen Blättern für Kirchenmusik gelesen und dachte einfach: Das wäre ganz nett, das klappt natürlich nicht. Es ist auch gut, bevor man sich auf eine Stelle bewirbt, so ein Verfahren mitzumachen. Wer nichts zu verlieren hat, kann nur gewinnen. Nachdem ich irgendwie so halb mitbekommen hatte, wer noch so alles da war, habe ich auch gedacht, die Frau Bester hat sich verwählt, als sie mich anrief. Ich konnte das ja selber nicht glauben. Schwein gehabt. Auf jeden Fall habe ich mich sehr gefreut.
Wie viele Chöre leitest du zurzeit?
Nikolai Ott (überlegt, zählt nach): Vier Erwachsenenchöre, davon zwei projektweise. Und drei Kinderchorgruppen.
Mössingen ist für die Ludwigsburger gefühlt gaaaaaanz weit weg. Du könntest dir dein Leben doch viel bequemer einrichten, ohne das ständige Hier- und Dorthinfahren. Warum tust du dir das an? Wie machst du das?
Nikolai Ott: Von meinem ersten selbstverdienten Bezirkskantorengehalt habe ich mir ein Auto gegönnt, mit dem man gerne fährt. Das macht es einfacher. Auf der anderen Seite möchte ich ja nicht nur Chöre leiten, sondern auch Kirchenmusiker sein. Zum Beispiel liegt mir die Ausbildung nebenamtlicher Kirchenmusiker sehr am Herzen. Man ist als Kirchenmusiker irgendwie automatisch Generalist, davon lebt ja auch der Beruf. Ich habe meine Büronummer umgeleitet. Ich habe immer meinen Laptop dabei und kann von verschiedenen Orten mobil arbeiten. Das geht natürlich beim Gottesdienstspielen nicht, sonntags und in den Chorproben bin ich leibhaftig anwesend in Mössingen. Ich bin sehr viel unterwegs, im Bezirk wie auch hierher und überhaupt. Ich telefoniere sehr, sehr viel beim Autofahren und löse viel von unterwegs aus. Und es gibt in dieser Kantorei sehr viele Menschen, die mich entlasten. Ohne diese Leute wäre ich aufgeschmissen. Absolut.
Ja, früher schliffen wir auf die „So, die So, die So-o-o-ne“ unsere Stimmen, heute stimmst du „Ferrari, Ferrari, Ferrari“ an. Du liebst schnelle Autos? Oder geht es dir nur um das R?
Nikolai Ott:: Ich würde mir nie einen Sportwagen kaufen. Mir geht es um ein bisschen um das R. Mir geht es um das A, weil das in der Höhe öffnet und zwar besser als das O. Deswegen fangen wir mit Mercedes an, gehen in die Höhe mit Toyota und, wenn es ganz hoch wird, kommt der Ferrari. Es geht weder um das R, noch um den teuren Sportwagen.
„Ich habe einfach gesagt, ich mache das jetzt“
Ist das wahr, dass du schon mit 16 einen Männerchor geleitet hast? Ein Frühberufener sozusagen. Das ist ja nicht so das ganz alltägliche Hobby eines Jugendlichen. Wie kam es dazu?
Nikolai Ott: Ich habe es einfach gemacht. Meinen ersten Chor hatte ich tatsächlich mit 16, das war ein Projektchor, meine Eltern und Großeltern haben mich hingefahren. In der Weitläufigkeit Hohenlohes kann man diese Dinge eigentlich erst machen, wenn man ein Auto hat und einen Führerschein. Also kam mit 18 der Männerchor dazu. Berufen hat mich keiner. Ich hatte eine Eigenschaft, die ich sehr gerne wieder hätte. Ich habe mir früher viel weniger Gedanken gemacht, ob ich irgendetwas kann, ob irgendetwas möglich ist, wie das wohl sein oder werden wird. Ich habe frei von der Leber weg Dinge einfach getan, weil ich sie tun wollte. Ich habe einfach gesagt, ich mach’ das jetzt. Es hat unglaublich Spaß gemacht. Und ich bin dankbar, dass ich das Vertrauen bekommen habe von den Leuten.
Aber vor dem Männerchor war das Austauschjahr. War Argentinien ein Zufall? Normalerweise wollen alle in ein englischsprachiges Land.
Nikolai Ott: Ich bin 2006 im Juli nach Argentinien. Das war tatsächlich purer Zufall. Ich hatte mich für Irland, Großbritannien, Neuseeland und Australien interessiert. Fünf Länder musste man angeben. Dann habe ich noch das erste oben auf der Liste angekreuzt. Noch vor Australien: Argentinien. Für die ersten vier Länder hatte ich keine Chance. Ich wollte einfach nur weg. Ich habe mir keine Gedanken gemacht, ob ich jetzt Spanisch kann oder nicht. Mein Opa, der war ein wirklich weitgereister Mann, der hat mir dann so sinngemäß gesagt: „Überall auf der Welt gibt es nette Leute. Dann lernst es halt mit dem Spanischen“.
Du landetest in der Familie eines Musikprofessors. Wieder ein Zufall? Jedenfalls eine Freundschaft fürs Leben. Erzähl ein bisschen von deiner Liebe zu Argentinien, der Musik, den Menschen dort.
Nikolai Ott: Ich war zuerst in einer anderen Gastfamilie. Die waren Fußballer. Wir haben uns nicht wirklich zusammenraufen können. Dann kam eben dieser Kontakt zu Sebastian zustande, und ich bin nach einigen Monaten zum ihm gezogen. Das war im Mozartjahr 2006. Wir haben gemeinsam „Zauberflöte“ gemacht, ein Kirchenkonzert, wir haben Mozartsonaten gespielt. Das war für mich als 16-, 17-Jähriger meine erste Freiheitserfahrung. Ich habe angefangen Wein zu trinken, habe Pfeife geraucht, bin dort Auto gefahren, war nicht mehr angewiesen auf einen Erziehungsberechtigten. Das war für mich eine ganz krasse Erfahrung, auch wenn ich zu Hause ganz viele Freiheiten hatte, meine Eltern waren echt auch megaliberal. Das war einfach etwas anderes. Daraus wurde tatsächlich eine Freundschaft fürs Leben, obwohl 20 Jahre Differenz sind zwischen Seba und mir. Die ganze Zeit mit ihm war für mich ein Roadtrip über sechs Monate, so kann man das vielleicht umschreiben. Ich bin irgendwann nicht mehr in die Schule, es war klar, dass ich die Klasse ohnehin wiederhole. Das war eine unglaublich wertvolle Erfahrung: Wir haben Musik gemacht, Nächte durchgemacht, wir saßen am Lagerfeuer, haben gegrillt, Ziegen geschlachtet. Wir sind verreist, in die Anden und sonst wo hin. Er hatte einen großen Spaß daran. Es ist ein ganz besonderes Verhältnis.
„Bei mir blieb Bier in der Probe erlaubt“
Wieder retour in Gerabronn kam dann der Männerchor. Die Ruppertshofener haben dich sofort akzeptiert? Die lieben dich ja heute noch. Wie hast du das gemacht?
Nikolai Ott: Ganz einfach. Bei mir blieb Bier in der Probe erlaubt. Meine Mitbewerberin, die viel besser qualifiziert war, eine studierte Musikerin, wollte kein Bier in der Chorprobe. Das war und ist bis heute in Ruppertshofen nicht denkbar. Ich kam zur Chorprobe rein, habe die angeguckt und dachte „Geil, ihr trinkt hier Bier“ und sagte: „Kann ich auch eins haben?“. Ich glaube, in dem Moment war das Bewerbungsverfahren entschieden. Das war wirklich der einzige Grund, warum die mich genommen haben. Manchmal habe ich auch ein bisschen Sehnsucht nach den Menschen dort. Ich habe bis heute guten Kontakt, es ist ein unglaublicher Ort, eine unglaubliche Dorfgemeinschaft.
Doch der Weg zur Kirchenmusik ist noch weit. Kirchenlieder werden ja auch nicht an jeder Wiege gesungen. Wie war das bei dir? Bist du kirchlich sozialisiert?
Nikolai Ott: Überhaupt nicht. Ich habe relativ früh als 12-, 13-, 14-Jähriger immer wieder Chöre in Gottesdiensten begleitet. Und, das ist meine Erfahrung, diese Texte und diese Musik, die sind so stark, dass sie sich selber vermittelt haben. Ich konnte die Harmonisierung von diesen Liedern entern, das hat mich so fasziniert, dass ich die Macht über die Begleitung habe. Ich habe regelrecht experimentiert auf der Orgel und auf dem Klavier mit diesen Melodien und diesen Texten. Sie sind teilweise so verdichtet, da konzentriert sich Lebenserfahrung und menschliche Empfindung, bei Paul Gerhardt zum Beispiel oder auch bei Joachim Neander. Ich bin überzeugt davon, das spüren junge Menschen. Davon geht eine Faszination aus. Ich denke da an „Befiehl du deine Wege“ oder an „Der Mond ist aufgegangen“, das ist nur nicht ganz so alt, oder auch an „Wer nur den lieben Gott lässt walten“. Wenn Musik die Macht hat, 250, 300, 450 Jahre in der Gesellschaft zu überleben, dann triggert das grundsätzliche Menschheitserfahrung. Das kann ein voll pubertierender, mit Hormonen vollgestopfter Jugendlicher spüren und sich darin festbeißen.
Wann bist du das erste Mal auf der Orgelbank gesessen?
Nikolai Ott: An meiner Konfirmation. Ich habe als Konfirmand ein Stück meines Konfirmationsgottesdienstes gestaltet und ein Musikstück auf der Orgel gespielt. Das war mein erstes öffentliches Wirken sozusagen als Kirchenmusiker. Mein damaliger Klavierlehrer, der war auch der Organist des Städtchens, der hat mich wie selbstverständlich an dieses Instrument gelassen. Und ich habe vom Pfarrer ohne auch nur eine Nachfrage als 13- oder 14-Jähriger den Schlüssel für die Kirche bekommen. Das war schon sehr wichtig für mich.
„Was so ein Kantor macht, war für mein Umfeld doch sehr abstrakt“
Wann und warum hast du dich entschieden, Kantor und Organist der Evangelischen Landeskirche Württemberg zu werden?
Nikolai Ott: Früher wollte ich immer Regisseur werden, dann Jurist und Betriebswirtschaftler. Ich wollte irgendwie selbstständig sein, Sachen organisieren. Dann war ich 2007 als junger Orgelschüler bei einer Aufführung des Weihnachtsoratoriums in Stuttgart bei Jörg-Hannes Hahn. Das war meine erste Begegnung mit dem richtigen oratorischen Fach und mit der kirchenmusikalischen Praxis außerhalb meiner Heimat. Es war dort tatsächlich nicht üblich, dass es jedes Jahr ein Weihnachtsoratorium irgendwo gibt. Das war für mich eine völlige Neuheit. Als ich den Hahn da so stehen und den riesigen Chor auf diese spritzige Art und Weise das WO singen hörte, da dachte ich, Hammer, so etwas will ich auch machen. Dieses Arbeiten mit Menschen, sie auch als Team auf so eine Aufführung vorzubereiten, das finde ich super spannend. Ich war nie ein guter Pianist und kein guter Organist, aber ich habe mich dann da so durchgebissen, weil ich in das oratorische Fach kommen wollte. Dass man da zur Kirche muss, liegt in der Natur der Sache. Was so ein Kantor macht, war für mein Umfeld am Anfang doch sehr abstrakt. Dass man sich damit einen Lebensunterhalt sichern oder einen BMW kaufen kann, das war den meisten nicht bewusst.
Was machst du am liebsten: Singen, orgeln oder dirigieren?
Nikolai Ott: Singen. Dirigieren ist so anstrengend. Physisch ja, auch. Aber es ist das Hören und das Rückmeldung geben. Du bist da zwei Stunden, hörst etwas, musst Rückmeldung geben. Was sage ich, gehe ich jetzt darauf ein, löst sich das im nächsten Durchgang? Da finden ja hundert Prozesse statt. Was ist jetzt wichtig? Wo fällt niemand hinten runter? Leiste ich es mir, mich jetzt mal drei Minuten allein dem Sopran zu widmen? Oder was auch immer. Da geht viel in einem vor, übrigens auch sehr viel schief.
Du engagierst dich im Schwäbischen Chorverband. Schon immer? Und warum bist du der traditionellen Chormusik in Württemberg so verbunden?
Nikolai Ott: Einer meiner ersten Chöre war dieser Männerchor. Ich habe ja ein Buch „Chorkomponisten in Württemberg“ herausgegeben. In dem Zusammenhang habe ich mich lange mit Fritz Werner, auch mit Friedrich Silcher befasst. Und wenn man sich die Demokratiebewegung im 19. Jahrhundert anguckt, und das ist ja auch heute wieder aktuell, da muss man sagen, das Sammeln von Volksliedern, das macht etwas mit einem. Da geht es um Identität. Silcher hat sich übrigens nicht nur für das deutsche Lied interessiert, er hat international gesammelt. In der Kirche geht es um religiöse Identität, vor allem bei Chorälen oder einem Hymnus wie „Verleih uns Frieden gnädiglich“: Die sind identitätsstiftend. Auch Fußballer im Stadion haben ihre Gesänge, anhand derer sie als Gruppe auszumachen sind. Das Volkslied ist dem entsprechend ein identifikationsstiftendes Element. Ich glaube, dass das gemeinsame Musikmachen auch ohne weltanschaulichen Hintergedanken, der ja bei der Kirche immer mitschwingt, extrem wichtig ist. Und der Chorverband das sind einfach viele liebe Menschen und eine Geschäftsstelle, die mit ganz viel Eifer versuchen, diese Amateurmusikszene zusammenzuhalten und vor allem auch mal politisch zu vertreten. Es ist die Anstrengung wert, im politischen Tagesgeschäft auf Kultur als wertvollen gesellschaftlichen Bestandteil aufmerksam zu machen. Das unterstütze ich, soweit es meine Freizeit zulässt, immer gerne.
Was genau bist du und machst du im Chorverband?
Nikolai Ott: Ich bin stellvertretender Musikdirektor. Vor allem gebe ich Geld für Projekte aus (lacht laut). Und bin in der Ausbildung von nebenamtlichen Chorleitern tätig.
„Auf dem Fußballplatz siezen sich die Leute ja auch nicht“
Zurück zu uns. So plusminus deine erste Tat war, der Kantorei das Du anzubieten und als allgemeinen Umgangston einzuführen. Warum?
Nikolai Ott: Man ist per se auf Augenhöhe. Das ist meine grundsätzliche Überzeugung. Chorleiter sind alles andere als fehlerfrei, sie sind genauso fehlerbehaftet wie jeder Sänger, der da sitzt. Es gibt höchstens ein Gefälle: Er kennt die Partitur in der Regel besser. Wie der Fußballtrainer muss der Chorleiter eine Mannschaftsleistung abrufen können. Das kann er, in dem er diktiert, oder in dem er so wie ich hoffentlich meistens versucht, die Menschen aufeinander zu beziehen. Das mag ein hehres Ziel und auch ein bisschen eine Utopie sein, den Chor als Team und den Chorleiter weniger als Diktator, vielmehr als Coach zu begreifen. Aber darin sehe ich die Chance, den Chor nicht nur von Stück zu Stück, sondern über einen längeren Zeitraum hinweg weiterzuentwickeln. Deswegen singt die Kantorei in der Probe ja auch immer wieder ohne Dirigenten. Aufeinander hören, miteinander atmen: Das zu fördern und das in einem Klima zu tun, wo jeder sich als Rädchen im Getriebe empfindet, ist mein Ziel. Da hilft das Du. Ich habe das Gefühl, dass es in Chören, gerade auch in Kirchenchören viel Distanz gibt untereinander, auch in der Kantorei sind nicht alle grün. Ein Chor ist ein kleines Abbild der Gesellschaft, aber letztendlich ziehen alle am gleichen Strang. Da braucht es so wenig wie möglich Gefälle oder Hürden. Auf dem Fußballplatz siezen sich die Leute ja auch nicht. Es bleibt eine Gemeinschaftsleistung. Der Dirigent hat die Aufgabe, die Leute zu einer Teamleistung zu animieren. Das geht mit dem Du leichter, glaube ich. Und ich mache das ja auch so, dass ich die Leute erst duze, wenn sie mich duzen. Ich biete es an. Aber wenn mich jemand siezt, dann sieze ich zurück.
Singen ohne Geselligkeit gibt es für dich nicht. Stimmt das? Das Sommerfest jedenfalls war dir zu wenig.
Nikolai Ott: Mit meinem Cantus, meinem kleinen Kammerchor, sind wir eine Woche gemeinsam weggefahren, haben gemeinsam gekocht, im Pool gebadet und gemeinsam die Abende verbracht. Das macht was mit dem Chor. Da passieren auch menschlich Reibungen, es entsteht auch gelegentlich Hitze. Da wird die Definition zum Chorleiter und die Abgrenzung nicht immer einfach. Aber ich bin der Überzeugung, dass wenn Menschen heute ihre Freizeit investieren, möchten sie ein Ergebnis haben, auf das sie stolz sind hinterher, und sie möchten das auch entsprechend feiern. Deswegen bin ich zum Beispiel ein großer Anhänger dieser Brüderbräukeller-Abende, die wir vor Corona einmal im Monat gehabt haben. Man kommt miteinander ins Gespräch. Man weiß, wie geht’s dem einen. Hat jemand beruflich Probleme? Ist im privaten Umfeld jemand gestorben? Man kann diese Leute ganz anders auffangen. So ein Chor ist, immer auch ein Stück weit soziales Netz und Netzwerk. In Zeiten von digitalen Social Networks muss es das größte Interesse von Kirche und Diakonie sein, die Menschen zusammenzubringen.
Eine andere große Änderung ist mit dir in den Chor eingezogen. Das Internet. Die paar vereinzelten Infomails reichten dir nicht. Am liebsten würdest du eine Chormail-Lesepflicht, bis zu Ende, inklusive Anhang, einführen, stimmt’s?
Nikolai Ott: Jein. Manchmal rede ich mir drei Chorproben lang den Mund fusselig, wie was geplant ist und was wir machen und am Ende gibt es immer fünf Spezialisten, die nichts davon mitbekommen haben. Deswegen haben wir gesagt, wir verschriftlichen alles, damit man es lesen kann. Nur – die entsprechenden Spezialisten kriegen auch das nicht mit. Aber so können wir sagen, der Chorbeirat hat seine Pflicht erfüllt, Dinge, auch Termine grundsätzlich so früh wie möglich in so einem Vierteljahresbrief zu kommunizieren. Alle, die im Verteiler sind, bekommen die Infos. So habe ich die Sicherheit, dass die Dinge bei den Menschen angekommen sein könnten.
„Es braucht mehr Eigenverantwortung“
Du forderst eine konsequentere Vorbereitung auf die Probe. Auch hier kann und soll das Internet unterstützen.
Nikolai Ott: Wir leben nun mal im 21. Jahrhundert, in dem die Gesellschaft unter anderem durch das Internet nicht mehr so funktioniert wie vor 20 Jahren. Das müssen wir einfach anerkennen. Man kann es nicht stoppen, man kann es nicht aufhalten, man kann es nur begleiten. Es gibt in diesem Chor Menschen, die beruflich oder familiär so eingebunden sind, dass sie einfach nicht jeden Dienstag kommen können, die es aber genauso verdient haben, mitsingen zu dürfen. Beispielsweise können sich doch Ehepaare, die Kinder betreuen, abwechseln. Auf der anderen Seite gibt es auch Menschen, die wertvoll für die Chor sind, aber auch nicht regelmäßig kommen können. Dem müssen wir Rechnung tragen. Es ist ein Versuch: Es braucht mehr Eigenverantwortung. Es gibt auch keine Anwesenheitslisten mehr. Wer fehlt, muss sich beim Autofahren, in der Bahn, im Flugzeug mit diesem Werk vertraut machen. Wir kommen aber nur zu einem tragbaren Ergebnis, wenn die Leute an dieser Stelle mehr Eigenverantwortung übernehmen.
Ohne YouTube-Auftritte und Homepage kann ein Chor nicht mehr von sich reden machen?
Nikolai Ott: Doch natürlich. Es gibt 100 Möglichkeiten, gute Öffentlichkeitsarbeit zu machen. Ich bin aber überzeugt davon, dass wenn ein junger Mensch, ich sag mal, in meinem Alter, zehn Jahre älter, zehn Jahre jünger, einen Chor sucht, dann wird er eine Suchmaschine bemühen und fragen: „Siri, wo kann ich in Ludwigsburg in einem Chor singen?“ Und wenn wir dann vorne dabei sind, wir haben eine gut sortierte Homepage, wir haben ein paar repräsentative Aufnahmen auf den einschlägigen Plattformen, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass wir im 21. Jahrhundert von Menschen wahrgenommen werden. Sie hören sich das an und sagen vielleicht, „in so einem Chor würde ich auch gerne mitsingen“.
Du willst nicht immer die ewig gleichen Oratorien absingen. Aber mit unbekannten Komponistennamen lässt sich das Publikum halt schlechter anlocken als mit Weihnachtsoratorium und Mozart-Requiem. Setzt du deshalb auf die Kombination von Alt und Neu, von Bekannt und Unbekannt?
Nikolai Ott: Nein. Ich glaube, dass die ewiggleichen Oratorien Teil unserer Gesellschaft sind. Für mich gibt es kein Weihnachten ohne die erste Kantate WO. Das gehört dazu wie „Dinner for one“ zu Silvester. Es spricht ja auch für diese Werke, dass sie sich nicht absingen lassen. Man kriegt eine Johannespassion nicht kaputt, egal wie schlecht und wie nerdig sie aufgeführt wird, und wenn du es nur mit zwei Blockflöten machst. Die Frage ist immer, welche Perspektiven eröffnet man auf so ein Stück. So neue Stücke, auch die extra geschrieben worden sind als Intermedium, sie verknüpfen etwas. Und manchmal ist es bloß der Raum. Wir haben ja Mozart-Requiem und Pärts „Stabat Mater“ gemacht. Diesen Pärt vor dem Requiem – ob ich das in der Friedenskirche so gemacht hätte? Eher nicht. Aber ich bin in diesen Raum gekommen, in diesen Urban Harbor gekommen und habe gesehen: Dieser Raum braucht Arvo Pärt. Ganz klare Linien, ganz klare Strukturen, alles symmetrisch eingeteilt: In diesem Raum brauchen wir dieses Stück. Da war eher der Raum ausschlaggebend für das moderne Stück.
Schon bei deinem ersten Konzert mit der Kantorei der Karlshöhe hast du Händels gewaltiges Werk „Israel in Egypt“ mit einer Uraufführung – „Beben“ von Jan Kopp - gebrochen. Wie war die Reaktion in Chor und Publikum?
Nikolai Ott: Die Reaktion im Publikum war, was an mich kommuniziert wurde, durchgehend positiv, auch das Stück betreffend. Den Chor davon zu überzeugen, war schwieriger, vor allem weil dieses Stück sehr viele improvisatorische Elemente enthält. Chorsänger sind quasi ihr Leben lang darauf getrimmt, alles auf den Punkt genau abzuliefern, und plötzlich sollen sie es einfach so machen wie sie Lust haben. Da spielen zwei Dinge eine Rolle. Also erst mal dieses Vertrauen zu entwickeln, dass der Chorleiter dem Chor nichts Böses will mit den Stück, sondern dass es eine Bereicherung sein kann. Und dann muss der Chorsänger irgendwas tun und das auch noch überzeugt tun, was gegen seine Sozialisierung geht. Spätestens in der Aufführung haben die Leute im Chor gemerkt, dass diese Stücke Bezug aufeinander nehmen, dass es ein großes Ganzes ist mit eben dieser Brücke zwischen den beiden Teilen. Letztendlich sind diese Stücke nichts anderes als Ohrenputzer, sie ermöglichen danach ein ganz anderes Hören auf den Händel.
Die Kantorei entdeckt für ihre Konzerte neue Räume wie den Urban Harbor. Findet das „Raus-aus-der-Kirche“ nur Zustimmung?
Nikolai Ott: Aus kaufmännischer Sicht immer. Wir zahlen dort auch weniger Miete als in der Friedenskirche. Darüber hinaus pflegen wir mit dem Konzert eine kulturelle Darreichungsform aus dem 19. Jahrhundert. Mir wäre es das Liebste, auch mit diesem Format zu brechen. Es muss nicht immer gleich eine künstlerische Intervention werden. Aber die Leute irgendwie anders anzuregen, da bergen Räume ganz viel Potenzial.
Corona hat sich kein Mensch vorstellen können, auch kein Chorleiter. Wie hat die Kantorei der Karlshöhe die Lockdown-Phasen überlebt?
Nikolai Ott: Für meine Begriffe erstaunlich gut. Natürlich verzeichnen wir Abgänge, es sind einige Leute ausgestiegen vor allem altershalber. Einige mussten sich auch beruflich umorientieren durch diese Pandemie. Wir profitieren gerade aber auch davon, dass wir relativ schnell wieder eingestiegen sind. Es machen relativ viel Neue mit, das hat natürlich auch klangliche Auswirkungen auf den Chor. Mich freut es, dass wir in der Lage sind, innerhalb von zwei Monaten den „Lobgesang“ auf die Beine zu stellen. Das ist für uns alle ein Kraftakt. Ich habe aber so ganz prinzipiell das Gefühl, dass diese Pandemie das Engagement und die Lust zum Singen nicht nachhaltig beeinträchtigt hat.
Gibt es bleibende Auswirkungen der Pandemie auf den großen Ludwigsburger Oratorienchor?
Nikolai Ott: Kurzfristige Auswirkungen kann man hören. Die Leute sind das Hören nicht mehr so gewohnt, auch das Singen nicht, vor allem darauf zu achten, wie sind Vokale formuliert, wann kommen Konsonanten, wie funktioniert das alles. Wenn man das über Jahrzehnte jede Woche macht, dann sind viele Dinge ganz selbstverständlich. Und diese Selbstverständlichkeit ist abhandengekommen in den letzten anderthalb Jahren. Der Chor steht nicht so da, wie er 2019 da stand. Das ist völlig klar, da kann man auch nichts schönreden. Doch das bleibt nicht so. Um es im Kfz-Sprech zu sagen: Diese Beule kann man wieder rausdengeln mit etwas Mühe und Engagement. Es mag sein, dass dieser Chor um zehn oder 20 Prozent kleiner ist als vorher. Das ermöglicht, finde ich, aber auch vieles. Es muss ja nicht immer Verdi-Requiem.
Sie ist also trotz allem deine Kantorei geblieben. Was schätzt du an deiner Kantorei?
Nikolai Ott: Die Treue, die viele Sängerinnen und Sänger dem Chor halten über Jahrzehnte, obwohl es vergleichbare Angebote nur einen Steinwurf weit entfernt gibt. Ich schätze es sehr, dass viele Menschen jeden Dienstag teilweise 30, 40 Kilometer fahren, um da mitzusingen. Es ist ein großes Potenzial von Chören, dass ganz viele unterschiedliche Menschen ihre Begabungen zum Wohle dieser Gruppierung einsetzen. Das ist für mich in der Kantorei ganz deutlich spürbar, viele tun da mit Engagement, Knowhow und viel Herzblut viel fürs Ganze. Gut, manchmal schießt auch mal einer übers Ziel hinaus. Ich sehe es als meine Aufgabe an, einen Kurs festzulegen und darauf zu vertrauen. Mir gefällt auch, dass man einen natürlichen Umgang pflegt und die Atmosphäre entspannt ist. Zumindest aus meiner Warte. Und: Viele Menschen, die im Chorbeirat sind, unterstützen mich ganz arg.
„Ich wünsche mir, dass wir aus dem begeisterten einen begeisternden Chor machen“
Was wünscht du dir für sie – und für dich? Was soll – musikalisch betrachtet - anders werden, was bleiben?
Nikolai Ott: Für die Kantorei wünsche ich mir, dass wir die Freude am Musizieren behalten, die wir gerade haben, die Freude aneinander und den Drive, den wir entwickelt haben in den letzten anderthalb Jahren vor der Pandemie. Ich wünsche der Kantorei, dass sie Unterstützung erhält, mit Spenden und mit Konzertbesuchen, weil es sonst echt schwer ist. Für mich wünsche ich, dass es der Chor noch ein paar Jahre mit mir aushält, und musikalisch, dass wir an manchen Stellen noch kultivierter und ein klein wenig sauberer singen, dass wir aus dem begeisterten einen begeisternden Chor machten.
Bleibt die Kantorei auch in Zukunft der Karlshöhe verbunden?
Nikolai Ott: Wir sind gerade ganz gut verbunden, in regem Austausch mit der Karlshöhe. Aber die Tatsache, dass wir als eine der letzten Diakonie-Kantoreien überhaupt noch so gefördert werden, macht es beiden Seiten nicht immer einfach, die Gegenseite zu verstehen. Der Dialog und das Klima sind eigentlich gut. Manches braucht der Überarbeitung. Dieser Chor ist ohne Diakonie, die Karlshöhe ohne das Wirken von Siegfried Bauer auf der Karlshöhe nicht denkbar.
Machst du dir Sorgen, dass Corona noch einmal unsere Pläne durchkreuzen könnte?
Nikolai Ott: Das wird passieren. Ganz sicher, bei der Fülle der 2-G- und 3-G-Maßnahmen und dem Veränderungsrhythmus der Verordnungen. Man muss eben mit allem rechnen… Angst habe ich davor keine.
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